Business as Usual: Noch immer an den Folgen einer Covid-Infektion leidend, bekam ich von meinem Hausarzt eine Überweisung zum Lungenfacharzt. Ich rief also eine nahe gelegene Facharztpraxis an, um dort wegen der akuten Atemnot einen raschen Termin zu erhalten. „Am 9. Mai habe ich den nächsten freien Termin.“ „Ich habe aber akute Probleme.“ Das tut mir leid, aber vorher sind alle Termine beim Doktor vergeben.“ Sprachlosigkeit meinerseits. „Sind Sie vielleicht Privatpatient?“ Als ehemaliger Beamter bejahte ich. Schweigen in der Leitung. „Ach da sehe ich gerade, da ist Mitte März gerade ein Termin frei geworden.“
Offenbar sind auch in der Corona-Pandemie nicht alle Menschen gleich. Wenn wir die Ängste der Menschen ernst nehmen wollen, dann sollten wir uns zunächst die Entwicklung des Gesundheitswesens in Deutschland anschauen.
Im ersten Teil dieser Serie zum Gesundheitswesen widme ich mich den Krankenhäusern.
Nach langen Kämpfen der Bergedorfer gegen die Schließung des Allgemeinen Krankenhauses Bergedorf wurde 2000 das AK Bergedorf mit dem Bethesda fusioniert und ging so in private (kirchliche) Hände über. Das AK Bergedorf am Gojenbergsweg mit zuletzt 350 Betten wurde geschlossen. Seitdem gibt es nur noch das Bethesda Krankenhaus in Bergedorf. Seit den 1990er Jahren hatte eine massive Ökonomisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens stattgefunden. (Vgl. Karl-Heinz Roth, Blinde Passagiere, https://www.kunstmann.de/buch/karl_heinz_roth-blinde_passagiere-9783956144844/t-9/ ) Das Gesundheitswesen erwies sich als renditebringende, sichere Anlage für große Kapitalvermögen und Investmentfonds – eine Tradition, die in den USA schon lange vorherrschte. Aufgrund der kontinuierlich wachsenden öffentlichen Ausgaben erschien eine Anlage in dem Gesundheitssektor antizyklisch und eine gute Absicherung gegen die wachsende Instabilität der Kapitalmärkte.
2002 beschloss der CDU/FDP/Schill-Senat den Verkauf von 10 städtischen Kliniken in Hamburg. Sofort regte sich in der Bevölkerung Widerstand. Unter der Parole „Gesundheit ist keine Ware“ entschieden sich im Februar 2004 ca. 600.000 Menschen in Hamburg in einem Volksentscheid gegen die Privatisierungspläne des Senats. Doch das Hamburger Verfassungsgericht erklärte den Mehrheitswillen der Hamburger für nicht bindend, und Ole von Beust verscherbelte Ende 2004 die Krankenhäuser zu knapp 75% an den Asklepios-Konzern. (Handelsblatt 4.1.2005)
Für den Konzern begannen rosige Zeiten, insgesamt machte Asklepios mit der Krankheit der Menschen in Deutschland einen Gewinn von 1,5 Mrd. Euro (Statista 24.1.2022). Lediglich im Corona-Jahr musste der Konzern rote Zahlen schreiben. Zu viele Betten blieben leer.
Das Krankenhaus war nun von einer sozialen Einrichtung zu einem ganz profanen kapitalistischen Betrieb mutiert. Rationalisierung und Einsparung von Personalkosten wurden zu entscheidenden Benchmarks. (Schaubild aus: Spiegel, 21.12.2016)
Einer derjenigen, die diese Entwicklung mit Verve vorantrieben, war Karl Wilhelm Lauterbach, der Ende der 90er Jahre für den Pharmakonzern Bayer tätig war. Er machte sich dabei besonders für die Einführung der Fallkostenpauschale stark. Während im alten System die Verweildauer der Patienten im Krankenhaus als Grundlage für die Abrechnung mit den Krankenkassen diente, wobei immer auch der individuelle Fall berücksichtigt werden konnte, gab es nun für jede Erkrankung einen Festpreis zur Behandlung, der sich nach der Diagnosegruppe (DRG = Diagnose Related Systems) richtete. Schon 2000 schrieb Lauterbach: „Eine DRG-basierte Vergütung könnte einen Anreiz bedeuten, den Patienten mit möglichst geringem Aufwand zu behandeln und dann frühzeitig zu entlassen. […] Die Verweildauer sank im Rahmen eines langfristigen Trends weiter ab, wobei Entlassungen mit instabilem Zustand des Patienten leicht zunahmen.“ (Dt. Ärzteblatt 97, H. 8, 25.2.2000)
Auf soziale Notlagen konnte nicht mehr Rücksicht genommen werden. Im Rückblick – so schrieb der Spiegel Ende 2016 in einer Titelgeschichte („Asklepios Kliniken: Der kranke Konzern“) über das AK St. Georg – sei es einmal ein Klinikum gewesen, „auf das Hamburg stolz war. Obdachlose wurden hier vorbehaltlos behandelt.“ (Spiegel, 21.12.2016) Für viele Krankenhäuser war es selbstverständlich gewesen, im Bedarfsfall die sozialen Dienste einzuschalten und ihre Patienten erst zu entlassen, wenn die Nachsorge in die Wege geleitet war. In der kapitalistischen Rationalität der Fallkostenpauschale war nun kein Platz mehr für Soziales.
Für die Patient:innen waren die Folgen nicht nur negativ, neue Diagnostik- und Behandlungsverfahren verbesserten die Behandlungsqualität. Die Konzentration bestimmter Operationen auf eine kleinere Anzahl von Kliniken steigerte die Qualität der OPs.
Gleichzeitig nahmen in Deutschland diejenigen OPs zu, bei denen die Fallkostenpauschalen großzügig bemessen waren. Dazu gehörten Wirbelsäulen- und Hüftoperationen oder Eingriffe am Herzen. Es wird in Deutschland vielfach lediglich aus finanziellen Gründen operiert, wie ein internationaler Vergleich zeigt. 2019 wurden etwa in Deutschland durchschnittlich 314,9 Implantationen künstlicher Hüftgelenke je 100.000 Einwohner durchgeführt. Die Bundesrepublik hat damit die höchste Rate derartiger Eingriffe weltweit. Der Durchschnitt aller OECD-Länder belief sich im selben Jahr auf 147,1 Operationen je 100.000 Einwohner. (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/182669/umfrage/hueftgelenksoperationen-in-ausgewaehlten-oecd-laendern/ )
Wenn aber auf der anderen Seite ein kleineres Kreiskrankenhaus für die Hüftoperation das gleiche Geld von den Krankenkassen bekommt wie ein großes, dann kann es in diesem Wettbewerb nicht mithalten. Wie in vielen anderen Industriebetrieben bleibt der kleinere Konkurrent auf der Strecke. Die Anzahl der Krankenhäuser sank deutlich. (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2617/umfrage/anzahl-der-krankenhaeuser-in-deutschland-seit-2000/ )
2019 gab es knapp mehr als 20 % weniger Krankenhäuser als noch 1991. Die Zahl der Krankenhausbetten sank um rund 25 %. Im selben Zeitraum stieg aber die Anzahl der Patient:innen um rund 25 Prozent auf 19,4 Millionen im Jahr 2019.
Ihre Verweildauer fiel deutlich von 13,2 im Jahr 1992 auf 7,2 Tage 2019. Allerdings stagniert die Verweildauer seit einigen Jahren. Wenn die Krankenhäuser weiterhin Profite erwirtschaften wollten, dann mussten die Personalkosten verringert werden. Und in der Tat, auf Grund der sinkenden Verweildauer – das Ärzteblatt schrieb von „Blutiger Entlassung“ (Dt. Ärzteblatt 2007, H. 14, 6.4.2007) – hatten die Pflegenden mit immer mehr schwereren Fällen zu tun – und der bürokratische Aufwand stieg. Aufgrund der verschärften Arbeitshetze konnten sich die Pflegekräfte immer weniger um die Patienten kümmern; die Ausgliederung von angeblich zu teuren Bereichen, wie z.B. des Essens an billigere Caterer, verringerten ihren Kontakt zu den Patienten weiter, das kurze Gespräch beim Essen-bringen und beim Abräumen entfiel. Dafür musste sich die einzelne Pflegekraft um eine immer größere Zahl von Patient:innen kümmern. (https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-gute-arbeit-gegen-pflegenotstand-4181.htm#)
Erst wenn es die Beschäftigten überhaupt nicht mehr aushalten, gibt es u.U. neues Personal, oder wie es in der Zielplanung 2017 bei Asklepios heißt: Es gelte „der Grundsatz, dass erst nach einer spürbaren Leistungssteigerung etwaig zusätzlich erforderliches Personal eingestellt werden kann“. (Zit. n. Spiegel, 21.12.2016)
Auch wenn die Pflegekräfte gehaltsmäßig in den letzten Jahren aufgeholt haben und nun sogar leicht über dem Durchschnitt der Beschäftigten liegen, hat sich ihre Arbeitssituation insgesamt nicht verbessert. Schichtarbeit, Wochenendarbeit, dünne Personaldecke bestimmen ihren Arbeitsalltag. So wundert es nicht, dass viele diesem stressigen Job den Rücken kehren, denn der soziale Impetus, der Wunsch, anderen zu helfen, der viele zu diesem Beruf hat greifen lassen, blieb auf der Strecke.
Das Krankenhaus ist zu einem beliebigen kapitalistischen Betrieb geworden, der in vielen Bereichen die „Standards der BWL“ durchsetzt. Durch Just-in-Time Produktion fehlten etwa zu Beginn der Pandemie in deutschen Krankenhäusern Desinfektionsmittel und Masken. (Vgl. Roth, Abschnitt: Der Um- und Rückbau des Krankenhauswesens). Dass dennoch die Coronakrise in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern noch relativ günstig verlief, ist nur der Tatsache geschuldet, dass hier der Kapazitätsabbau noch nicht das Niveau von Spanien, Italien oder Griechenland erreicht hat.
Wenn wir uns mit Gesundheitsthemen beschäftigen, dann sollten wir den engen Fokus verlassen und nicht mehr nur auf „Impfen – ja oder nein?“ starren, sondern für ein öffentliches Gesundheitssystem zum Wohle aller kämpfen. Gesundheit ist keine Ware – deswegen muss als erster Schritt in Hamburg die Privatisierung der Krankenhäuser rückgängig gemacht werden.
Arne