29.06.2023: Bericht von Bord der Nadir

Der letzte Bericht endete mit dem Satz: Ich muß aufhören, am Horizont erscheint ein neues Boot.

Es ist zum Teil Routine geworden, wir lassen das Beiboot zu Wasser, schicken unsere Tendercrew voraus, das neu entdeckte Boot zu erkunden.

Wir müssen immer wissen, wieviele Menschen an Bord sind, wieviele davon Kinder, Verletzte, Schwangere, Bewustlose oder Tote sind. Wir müssen feststellen in welchem Zusatand das Boot ist, ist bereits Wasser eingetreten, wann sind sie wo abgefahren und wie lange haben sie nichts getrunken? Ist der Motor noch funktiuonsfähig? Das würde einiges einfacher machen.

Wenn wir festgestellt haben, ob Rettungsmittel an Bord sind, wird entschieden, ob wir Rettungswesten verteilen oder das Boot so fahren lassen wie es ausgestattet ist.

Manche Boote sind so überfüllt, dass es sich von selbst verbietet, Westen zu verteilen, denn es ist beim besten Willen kein Platz.

Nach der Analyse der Situation richtet sich unser weiteres Vorgehen. Immer informieren wir die Rettungsleitstellen von Malta, Italien und Bremen und besprechen mit der Küstenwache von Lampedusa ob sie uns ein größeres Schiff zum Abbergen der Menschen schicken können.

In diesem Boot haben wir 44 Menschen, alle erschöpft, aber zumindest keine feststellbaren schweren Schäden. Wir versorgen sie mit dem Nötigsten, sie sind seit 48 Std. unterwegs, sind in Sfax Tunesien abgefahren. Sie alle kommen aus südlicheren afrikanischen Ländern, viele sind als Gastarbeiter in Tunesien tätig gewesen, viele haben durch die katastrophale wirtschaftliche Situation in Tunesien alles verloren: Die Arbeit, das Einkommen, das Dach über dem Kopf. Viele sind größten Anfeindungen durch Tunesier ausgesetzt, es existieren Filme, die zeigen, wie Menschen aus der Subsaharah schutzlos durch die Strassen  geprügelt werden.

Die Küstenwache kommt nach drei Stunden und nimmt uns die Menschen ab, um sie an einen sicheren Ort zu bringen. Alleine gelassen vom restlichen Europa vollbringt die Küstenwache von Lampedusa einen bewundernswerten Job.

Es ist nicht ausreichend bekannt, welche Abkommen Malta mit Italien hat, aber es ist durch nichts nachzuvollziehen, warum Malta in seinem Such- und Rettungsgebiet seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, alles wird von Italien getragen.

Schon mittags gab es einen Notruf von einem Tunesischen Fischer für ein mit 46 Menschen besetztes Boot. Es trieb seit 36 Stunden mit defektem Motor in der tunesischen 24 Meilen Zone, wir hatten gehofft, dass sie von der Küstenwache versorgt werden, unsere Nadir ist zur Zeit das einzige Schiff einer privaten Hilfsorganisation vor Ort.

Eine neue Gesetzgebung der italienischen Regierung sorgt dafür, dass die großen Schiffe anderer Organisationen sofort weit nach Norden fahren müssen, um auch nur 20 Gerettete abzuliefern. Kümmern sie sich nach einer Rettung um ein weiteres Boot, dann wird das Schiff für 20 Tage an die Kette gelegt. Der Plan der Italiener ist es, die Rettungsorganisationen so weit es geht zu behindern, zum Teil werden den großen Schiffen Strecken von 1000 Seemeilen auferlegt um die Menschen an Land zu bringen. Das kostet wertvolle 10 Tage und gerne mal 70.000 € für Treibstoff. Diese Schiffe haben eine Kapatzität von 400-500 Menschen.

Immer wieder bittet der Fischer um Hilfe. Schnellstmöglich fahren wir los, wir haben drei Stunden Anfahrt.
Wir erfahren, dass das Boot seit vier Tagen unterwegs ist, seit 36 Std. haben die Menschen kein Wasser und keine Nahrung mehr.
Als wir ankommen, stellen wir fest, dass fast alle vollkommen dehydriert sind. Es sind 22 Minderjährige an Bord, 11 Frauen, eine schwanger, sie wird später das Kind bei uns an Bord verlieren.

Es wird dunkel, der Wind und die Wellen nehmen zu. Verzweifelt bitten wir die italienischen Behörden, die Menschen an Bord nehmen zu dürfen. Haben wir nicht die Order, dann bekommen wir die größten Schwierigkeiten, die Menschen an einen sicheren Ort (Lampedusa) zu bringen. Wir wissen nicht genau warum, aber unser Verhältnis mit der Küstenwache und den Behörden ist so gut, dass wir die einzigen sind, die Lampedusa anlaufen dürfen.

Die Genehmigung ist nicht da, wir entlasten das Boot, nehmen 15 Menschen auf ein von uns gestelltes Rettungsboot, wollen noch ein zweites einsetzen, stellen fest, dass die Kapazität nicht reicht und das ein Schleppen der Boote durch die Nacht unmöglich ist.

Endlich der Anruf über FunK: “Captain, Du darfst die Menschen an Bord nehmen und nach Lampedusa bringen.” Wir holen erst die verbliebenen 31 Personen von dem Stahlboot, dann die 11 Frauen und vier Kinder von unserem Gummiboot. Wir sind überglücklich, auch wenn wir wissen, dass uns noch harte Stunden bevorstehen.

Einmal an Bord brechen die Menschen reihenweise zusammen. Wir führen die Frauen und die kleinsten Kinder unter Deck. Ahmed liegt schon auf einer Behandlungsliege, bekommt eine Infusion. Überall liegen plötzlich Menschen, alle werden versorgt, unsere medizinische Abteilung leistet Großartiges unterstützt vom Rest der Crew. Viele Liter Infudsionslösung werden verabreicht, insgesamt sind 11 Menschen unter Deck in Behandlung, draußen versuchen wir mit Rettungsdecken den Wind einigermaßen erträglich zu machen. Tee mit viel Zucker wird serviert, die meißten schlafen schnell ein.

Wir kämpfen uns nach Lampedusa vor, Ankunftszeit ist mit 7.30 Uhr festgelegt. Die Wellen können wir gar nicht gebrauchen, sie gehen über das Deck und reißen an den drei Booten, die wir hinterher ziehen. jetzt bloß keins von denen verlieren, wir werden sie in den nächsten Tagen noch dringend brauchen.

Zwischendurch habe ich Angst, wir könnten jemanden vom Deck verlieren, sollte jemand aufstehen und fallen, aber alles geht gut. Um 7.30 Uhr legen wir an, um 7.45 Uhr sind alle Menschen von Bord, zwei Krankenwagen warteten schon.

Es ist samstagfrüh, jetzt nur noch schlafen. Am Sonntag geht`s weiter.

Wir fahren noch einmal in das Rettungsgebiet, der Wind hat deutlich zugenommen. Wellen bauen sich auf, zum Glück legen keine Boote ab.

Dienstag fahren wir durch die Nacht zu der kleinen Insel Linosa. Wir wollen einen Ruhetag einlegen, bevor wir Donnerstag zu unserem Liegeplatz in Malta fahren, dort das Boot reinigen, aufräumen und für die nächte Crew fertig machen.

Nach einer Wartungswoche geht sie am 8.7.2023 an Bord und wird versuchen, für die Menschen in Not da zu sein.

Wir konnten ca. 15 Booten mit mehr als 600 Menschen zur Seite stehen, viele hätten den sicheren Tod gefunden, hätten wir sie nicht entdeckt.

Ich danke meiner tollen Crew !

regards,

Ingo Werth, Captain von der Bridge of SV NADIR