Morias “vermisste” Migranten

Dieser Artikel wurde im Online-Magazin der griechischen Non-Profit Organisation “Solomon” veröffentlicht und wir haben ihn mit deren freundlicher Genehmigung ins Deutsche übertragen.
 
7. Dezember 2020
von Stavros Malichudis
 
Als mehrere Brände Europas schlimmstes Flüchtlingslager zerstörten, fiel auf, dass mehr als 3.000 Asylbewerber vermisst wurden. Während die Behörden über ihren Verbleib schwiegen, trafen wir einige von ihnen. Wir wurden Zeuge, dass sie in der Vorhölle lebten und ausgebeutet und Opfer brutaler Angriffe wurden; wir erfuhren, wie sie Grenzen überquerten, um den “europäischen Traum” zu verwirklichen, oder eben es nicht schafften. Und wir untersuchten die Praktiken der griechischen Regierung, Zahlen zu fabrizieren.

 

Sie sehen angespannt aus, es ist offensichtlich, dass sie angespannt sind. Es fällt ihnen schwer, sich zu entspannen. Die beiden jungen afghanischen Männer, die mir am sonnigen Nachmittag des 15. Juni 2020 in einem Café am Victoria Square gegenüber sitzen, schauen sich alle paar Augenblicke misstrauisch um.
Zuerst werfen sie einen besorgten Blick auf die Menschen um uns herum, dann nehmen sie einen Schluck ihres Freddo-Espressos. Und sie kehren zu unserer Diskussion zurück. Ja, beide nicken zustimmend, sie wissen, dass sie nicht in Athen sein können. Toryalai und Farzaad sollten etwa 360 km östlich auf der Insel Lesbos sein, unter den über 16.000 Asylbewerbern, die im Lager Moria gestrandet sind.

Dort trafen wir uns zum ersten Mal, damals im Februar 2020.
Eine Nachricht von Instagram, die früh am Morgen veröffentlicht wurde, deutete darauf hin, dass sie sich hier am Victoria-Platz befinden würden, wo Dutzende andere Asylsuchende von den ägäischen Inseln ankommen und obdachlos sind. Viele Afghanistani leben oder ziehen hierhin, so dass der Platz schon als “Afghanistan-Platz” bekannt ist.

Asyl Suchende am Victoria-Platz / Foto: Ali Mohammadi

Der Asylantrag von Toryalai und Farzaad wurde abgelehnt. Laut Gesetz bedeutet dies, dass die beiden Freunde, die gemeinsam den weiten Weg aus Afghanistan gereist sind, auf Lesbos bleiben sollen, bis ihre Berufung gegen die Entscheidung bearbeitet werden kann. Doch sie weigerten sich, das Elend Morias länger zu ertragen – abgesehen davon, dass die Chancen auf Asyl schlecht stehen – und beschlossen, nicht zu warten.

Sie fanden den Weg nach Athen und sie planen, weiterzumachen und die Grenzen im Norden zu überqueren. Wenn ich frage “wie?” – wie sie es getan haben, wie sie es tun werden – erscheint ein Lächeln auf ihren Gesichtern: “Wenn man in seinem Leben so viele Grenzen überschritten hat, kann man einen Weg finden, noch eine weitere zu überqueren.”

Ein paar Wochen später, erscheint eine neue Geschichte auf Instagram. Die beiden Männer haben nicht nur eine Grenze überquert, sie haben es jetzt bis nach Italien geschafft.

Feuer in Moria offenbart tausende Vermisste

Als das Lager Moria in der Nacht vom 8. September bis auf die Grundmauern niederbrannte, berichteten die Medien, dass durch die Zerstörung der größten Flüchtlingseinrichtung Griechenlands etwa 12.500 Asylsuchende obdachlos geworden waren. Offiziellen Angaben zufolge beherbergte das Lager Moria an diesem Tag tatsächlich sogar 12.767 Menschen. In der Woche nach dem Brand richtete die griechische Regierung auf dem Gelände eines ehemaligen Armeeschießstandes ein neues “provisorisches” Lager ein, das oft “Moria 2.0” genannt wird.

Doch nachdem alle ehemaligen Bewohner Morias im neuen Lager angekommen waren, sagte der Minister für Bürgerschutz Michalis Chrisochoidis, dass die Zahl der dort registrierten Migranten nur 9.200 betrug. Wo waren die anderen? Der Regierungssprecher und der griechische Premierminister selbst erklärten ausdrücklich, dass abgesehen von etwa 400 unbegleiteten Minderjährigen keine weiteren Asylbewerber von der Insel weggebracht würden.

Das bedeutet, dass mehr als 3.100 Migranten, d.h. ein Viertel der offiziell registrierten Zahl, vermisst wurden. Als das Problem von Fofi Gennimata, dem Leiter der Bewegung des Wandels (KINAL), angesprochen wurde, lieferte der Minister für Migration und Asyl, Notis Mitarachi, keine überzeugenden Erklärungen. Auch das Ministerium gab keine Antworten auf unsere Anfragen.

Über mehrere Monate hinweg traf Solomon mit einigen der “vermissten” Migranten wie Toryalai und Farzaad zusammen. Wir wurden Zeuge, wie sie Opfer brutaler rassistischer Angriffe in Athen wurden, wie sie über das Festland reisten, die Landwirtschaft am Laufen hielten und dabei brutal ausgebeutet wurden. Und wir sahen, wie sie in der Schwebe hingen, gestresst durch eine ungewisse Zukunft. Sie versuchten, in andere europäische Länder zu reisen, aber es gelang ihnen nicht.

Wir beschäftigten uns auch mit den Praktiken der Regierung, “Zahlen zu fabrizieren”.

Fünf Tage auf einer Intensivstation

Islamuddin wurde 1993 geboren, gehört der tadschikischen Volksgruppe an und hat die meiste Zeit seines Lebens in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans, verbracht. Die Dokumente seines Asylantrags, die er uns Anfang Oktober übergab, besagen, dass Islamuddin und seine Schwester das Land verlassen mussten, weil die Situation für sie unerträglich war.

Als sie jünger waren, erkrankte Islamuddin schwer, was ihn zu einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt zwang. Um der Familie zu helfen, die Kosten zu decken, begann seine Schwester als Schauspielerin in der Werbung und im Kino zu arbeiten. Doch dies führte dazu, dass ihre Gemeinde glaubte, die Ehre der Familie sei für immer verloren.

Als Islamuddin Anfang 2020, wenige Wochen nach ihrer Ankunft auf Lesbos, dem Asyldienst ihre Geschichte erzählte, berichtete er ihnen, dass die Menschen sie auf der Straße ständig verspottet und beleidigt hätten. Er fügte hinzu, dass die Familie von Veranstaltungen ausgeschlossen wurde, und ihnen von Verwandten, die den Taliban nahe standen, gedroht wurde, sie zu töten, falls sie jemals in die Provinz Baghlan, aus der sie stammten, zurückkehren würden.

Seiner Schwester wurde internationaler Schutz gewährt, aber Islamuddins Antrag wurde abgewiesen. Anstatt allein im Lager von Moria zu bleiben und auf die Entscheidung über seinen Antrag zu warten, beschloss er im vergangenen Sommer, die Insel zu verlassen.

Sobald er in der griechischen Hauptstadt angekam, erzählte ihm jemand von einer NGO, die ihm möglicherweise kostenlose Rechtsberatung anbieten könnte. An einem späten Nachmittag Anfang August ging Islamuddin mit seinen Dokumenten in der Hand zum Büro der NGO und war gerade in die Seitenstraßen hinter dem Omonoia-Platz eingebogen, als eine Gruppe von drei oder vier Personen auf ihn zukam.

Er glaubt, dass es Menschen waren, die Migranten nicht mögen. Mit dem ersten Schlag auf den Kopf erstarrt sein Gedächtnis. Islamuddin verbrachte die nächsten zehn Tage im Evangelismos-Krankenhaus, die ersten fünf Tage auf der Intensivstation. Das letzte Geld wurde ihm abgenommen, sagte er Salomon, und nun stecke er seit Monaten in der Schwebe: Während er sich in Griechenland unerwünscht fühle, schaffe er es auch nicht in ein anderes europäisches Land. Auch nach Afghanistan könne er nicht zurückkehren.

Bis heute, drei Monate nach dem brutalen Angriff, ist Islamuddin nicht in der Lage, das Essen zu kauen, das in dem Lager angeboten wird, in dem er Zuflucht gefunden hat. Alles, was er verzehren will, muss zuerst in einem Mixer zerkleinert werden.

Zugleich ist unklar, wie lange er im Lager bleiben kann, da die Behörden ihn schon aufgefordert haben, das Lager zu verlassen, da sein Fall dort nicht registriert sei. Vorerst hofft er, dass er von der Leitung des Lagers unbemerkt bleibt, wenn er sein Zelt an einem anderen Ort aufschlägt.

“Wir wussten nicht viel, bevor wir kamen, aber uns wurde gesagt, dass man sich in Europa um einen kümmert und dass die Staaten den Flüchtlingen helfen würden, ihr Leben fortzusetzen”, sagte er während eines unserer Interviews. Hätte er jedoch gewusst, wie die Dinge wirklich sind fast ein Jahr, nachdem er seinen Fuß in Griechenland gesetzt hatte, wäre er niemals gekommen. Das ist es auch, was er anderen raten würde.

“In Afghanistan kann eine Bombe einen jeden Tag töten, aber man stirbt nur einmal. Hier stirbt man jeden Tag.”

Leben in Moria zwischen offener Gewalt …

Fahim, 28 Jahre alt, kam im September 2019 nach Lesbos, an Bord eines Bootes mit 32 weiteren Personen, von einem italienischen Frontex-Schiff unterstützt, denn der Motor ihres Bootes war auf halber Strecke ausgefallen.

Als der junge Mann aus Afghanistan in Moria ankam, war sein erster Eindruck vom Lager, dass dieser Ort jeden gesunden Menschen in kürzester Zeit verrückt machen kann.

Er bemerkte dies, als eine Frau aus Jaghori, die er kannte und die in einem Zelt neben ihm wohnte, psychisch abbaute. Sie konnte nicht mehr schlafen und erlitt zum ersten Mal in ihrem Leben Panikattacken. Nach einer Weile konnte sie ihren Mann nicht mehr erkennen.

Da wurde Fahim klar, was dieser Ort den Menschen antun kann.

“Ich wusste, dass mir das Gleiche passieren würde, wenn ich da nicht rauskäme”, erinnert er sich. Aber nicht nur deshalb ging er fort. Wie die meisten Menschen, sagt Fahim, essen die Afghanistani im Winter gerne Suppe. Um sich finanziell abzusichern, während er in Moria auf sein Asylgespräch wartete, baute er auf dem berüchtigten Markt des Lagers einen eigenen Stand auf. Dort bot er warme Suppe an.

Am Ende des Tages aber tauchten Mitglieder einer im Lager aktiven Bande vor seinem provisorischen Zelt auf und verlangten Geld von ihm. Manchmal entkam er durch die Hintertür, manchmal schlief er in den Zelten von Freunden.

Eine Konfrontation mit der Bande führte dazu, dass er mit einer Messerstecherei davonkam. Er dachte, dass er überhaupt nicht arbeiten sollte, wenn er arbeiten und am Ende des Tages das Geld, das er verdient hatte, einfach jemand anderem geben musste. Die im Lager anwesende Polizei zu bitten, ihm zu helfen, funktionierte nicht. Tag und Nacht dachte er darüber nach, wie er von Moria wegkommen könnte. Er fühlte sich nicht mehr sicher.

… und Ausbeutung in der Landwirtschaft

Es ist nun etwa neun Monate her, dass Fahim es auf das Festland geschafft hat. Er arbeitete heimlich, um seinen Lebensunterhalt zu sichern.

Seine erste Arbeit war das Wollsammeln im weiteren Umkreis von Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt des Landes. Mindestens zehn weitere Personen, die heimlich aus Moria geflohen waren, arbeiteten mit ihm zusammen. Einen Monat lang arbeitete er “wie ein Tier”, sagt er, aber am Zahltag erhielt er nur die Hälfte des Lohns für die Tage, an denen er gearbeitet hatte. Er musste immer noch 30 bis 40 Euro Miete zahlen, um mit Dutzenden anderer Landarbeiter in einem Stall schlafen.

Sein nächster Versuch fand außerhalb der Stadt Thiva statt. Ein Freund erzählte ihm, dass es dort Arbeit bei der Weinlese gäbe, gemeinsam mit meist pakistanischen Arbeitskräften (auch ohne Dokumente). Der vereinbarte Tageslohn betrug 23 Euro, aber später fand er heraus, dass Mittelsmänner, so genannte “tecadors”, von den lokalen Produzenten für jeden Arbeiter 40 Euro pro Tag verlangten.

Lebensbedingungen von Landarbeitern in Manolada

Von seinem Lohn musste Fahim 1 € pro Tag an den Mittelsmann zahlen, 1 € für seine “Unterbringung” zusammen mit anderen in einem verlassenen Anwesen und 2 € für Lebensmittel. Da sie sich außerhalb des nächstgelegenen Dorfes befanden, konnten sie nicht allein einkaufen gehen, sondern mussten dem Zwischenhändler sagen, was sie brauchten. Alles, was sie kauften, war überteuert: von Zigaretten bis zu Lebensmitteln. Für einen Monster-Energy-Drink, der normalerweise 2 € kostet, wurde ihnen das Doppelte berechnet.

Am Ende eines Tages blieb weniger als die Hälfte der 23 € in seiner Tasche. Aber dieses Mal blieb er, weil er keine andere Möglichkeit hatte und weil er dachte, selbst dieses Einkommen sei besser als gar kein Einkommen.

Wie Islamuddin “versteckt” sich Fahim vorerst in einem Flüchtlingslager, in dem er nicht registriert ist, und überlegt, ob er zurück nach Lesbos gehen und die Wiederaufnahme seines Verfahrens verlangen oder Geld für die Überquerung der Nordgrenzen auftreiben soll. Früher glaubte er, dass er in Europa ein neues  Leben beginnen könne. “Aber was kann ich tun? Das hier ist es, was das Leben für mich gewesen ist”, sagt er in einem unserer Interviews.

Die Zahlen in Moria “waren nie präzise”

Seit dem Beginn der “Flüchtlingskrise” kamen mehr als eine Million Menschen auf den ägäischen Inseln an. Lesbos mit dem dem Camp Moria registrierte die meisten Ankünfte, beinahe die Hälfte aller Asylsuchenden kamen hierhin.

Von den Schleusern in die Irre geführt dachten Islamuddin und Fahim, ebenso wie viele andere Bewohner des Camps, die Solomon in den letzten Monaten interviewt hat, dass ihre Not ein Ende hätte, sobald sie Griechenland betreten würden. Ihnen würden Sprachkurse angeboten werden, finanzielle Unterstützung und Hilfe bei der Job-Suche.

Aber schnell landeten sie in der Realität Morias.

Der im März 2016 unterzeichnete Vertrag zwischen der EU und der Türkei veränderte die Funktion der Aufnahme- und Identifizierungszentren (RICs) auf den fünf Inseln (Lesvos, Leros, Kos, Samos, Chios) dahingehend, dass sie zu langfristigen Unterbringungsstrukturen wurden. Die Belegung der Lager wuchs drastisch und die Bedingungen in ihnen verschlechterten sich rapide.

Das Lager Moria, das für rund 3.000 Bewohner ausgelegt war, soll zeitweise das Vier-, Fünf- oder sogar Sechsfache seiner Kapazität erreicht haben. In den letzten Jahren war die Zahl der Bewohner, die ausserhalb der ursprünglichen Einrichtung lebten (im “Dschungel”, wie der Olivenhain drumherum genannt wurde), sogar deutlich höher als die Zahl der Bewohner innerhalb des Lagers.

Wie kann man also die tatsächliche Zahl der Bewohner in einem nicht abgegrenzten Gebiet schätzen, in dem Hunderte von Zelten unterschiedlicher Größe völlig unkoordiniert aufgestellt wurden und ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, wie es die täglichen Berichte der griechischen Staatsbehörde nahelegen?

“Die Antwort ist, dass die genauen Zahlen höchstwahrscheinlich nie wirklich bekannt waren”, sagte ein Spitzenbeamter einer internationalen Organisation, die seit dem frühen Start des Lagers in Moria anwesend war, zu Salomon. “Es ist unrealistisch zu sagen, dass die gemeldeten Zahlen exakt waren”.

“Griechische Statistiken” für Moria

Unter der Bedingung seine Anonymität zu wahren, fügte der Beamte hinzu, dass selbst die Zahlen bezüglich der Kapazität der Einrichtung nicht besonders verlässlich seien.

“Niemand weiss genau, was diese Zahlen bedeuten. Die Regierung sagt zum Beispiel, dass ‘Moria 2.0’ eine Kapazität von 10.000 Personen hat. Wie wird diese Kapazität berechnet? Wird sie nach der Anzahl der Zelte oder nach der Grösse des Standorts berechnet? Niemand weiß genau, wie die Kapazität in diesem oder in anderen Lagern ermittelt wird”.

Darüber hinaus fügte dieselbe Quelle hinzu, dass in den vergangenen Monaten neben den Asylsuchenden, denen es gelang, das Lager heimlich zu verlassen, auch bekannt wurde, dass jeden Tag etwa 20-30 der ehemaligen Bewohner, die auf das Festland verlegt wurden, nach Moria zurückkehrten, da sie keine anderen realistischen Möglichkeiten hatten, sich auf dem Festland niederzulassen.

Die von den griechischen Behörden vorgelegten Zahlen über die Lagerbevölkerung könnten mit einer bekannten, aus den vergangenen Jahren bekannten Zwei-Wort-Phrase beschrieben werden, fügte der Beamte hinzu: “Griechische Statistiken”.

Zweitausend “Vermisste” aus Samos?

Salomon wandte sich an das Ministerium für Migration und Asyl mit vier Fragen bezüglich der “vermissten” Migranten aus Moria:

  1. Gibt es eine genaue Zahl oder eine Schätzung der Zahl der Asylsuchenden, die das Lager Moria verlassen haben?
  2. Verfügt das Ministerium über Kenntnisse über den Verbleib der Migranten, die das Lager Moria verlassen haben? Sind sie im Ausland oder in Griechenland? Falls in Griechenland, wo?
  3. Welche demographischen Daten (Nationalität, Alter, Asylantrag) der Personen, die das Lager verlassen haben, liegen vor?
  4. Wie hat die Lagerleitung, die vom Ministerium für Migration und Asyl ernannt wurde, die Bevölkerung von Moria gezählt?

Das Ministerium hat auf unsere Fragen keine Antworten gegeben. Durch die Befragung gut informierter Quellen vor Ort (unter der Bedingung der Anonymität) ist es uns jedoch gelungen, einige Antworten zu erhalten – vor allem auf unsere vierte Frage.

Zwei Quellen teilten Solomon mit, dass Giannis Balbakakis, als er noch Leiter des Lagers war, zeitweise in den frühen Morgenstunden Mitarbeiter entsandte, um die Bewohner Zelt für Zelt zu zählen. Balbakakis kündigte seine Stelle im September 2019. Es bleibt unklar, wie die Zählung seitdem durchgeführt wurde oder wie effektiv sie während seiner Zeit als Leiter war.

Aber selbst während der Balbakakis-Verwaltung gab es noch mindestens einen weiteren Fall, in dem die Verwaltung selbst erkannte, dass die Zahlen, die sie hatte, nicht die tatsächliche Realität widerspiegelten.

Nach der offiziellen Zählung vom 18. November 2019 befanden sich 6.849 Asylbewerber im Lager Moria. Am Tag danach, am 19. November, waren es 5.937. Laut damals vor Ort anwesender Quellen wurde zu diesem Zeitpunkt eine Überprüfung vorgenommen und die Lagerleitung stellte fest, dass etwa 1.000 registrierte Asylsuchende vermisst wurden.

Moria ist nicht das einzige Lager auf den ägäischen Inseln, von dem angenommen wird, dass es “griechische Statistiken” über seine registrierte Bevölkerung eingeführt hat. Denselben Quellen zufolge hat ein leitender Beamter des Ministeriums für Migration und Asyl mindestens zweimal offen zugegeben, dass im Lager Vathy auf Samos über 2.000 registrierte Asylbewerber “vermisst” werden.

Vathy hat eine Kapazität von 648 Menschen und beherbergte nach offiziellen Angaben am 3. Dezember 2020 3.715 Bewohner. Die Menschen werden voraussichtlich bis Ende des Jahres in ein neues Lager auf der Insel verlegt. Es wird davon ausgegangen, dass dann der Unterschied zwischen den gemeldeten und den tatsächlichen Lagerbewohnern deutlich werden wird.

Letzte Kontrolle in Moria… im Juli 2019

Mit der Erkenntnis, dass Tausende von Menschen auf Lesbos vermisst werden, forderte die Oppositionspartei SYRIZA die Regierung auf, auch auf den anderen Inseln die tatsächliche Zahl der Bewohner in den Lagern zu überprüfen, was bisher jedoch noch nicht geschehen ist.

Als Antwort auf eine Anfrage von SYRIZA-Abgeordneten zur “fabrizierten Zahl der Begünstigten, die in Moria Verpflegung erhalten”, sagte der Minister für Migration und Asyl Notis Mitarachi, dass die Zahl der in den Lagern lebenden Menschen jährlich überprüft werde.

Das letzte Mal, so der Minister, sei jedoch im Juli 2019 eine jährliche Kontrolle durchgeführt worden.
In derselben Antwort bezog sich Mitarachi auf “etwa 1.500 Asylsuchende, die im August aus eigenem Willen und individuell Moria verlassen haben”. Die Wahrheit ist jedoch, dass er selbst damals für die “Entstauung der Inseln” eintrat und sie als eine Aktion seiner Regierung ausgab.

Griechenland profitiert von gefälschten Zahlen

Als ich Anfang 2017 begann, über die “Flüchtlingskrise” zu berichten, war es unter den im ganzen Land tätigen Humanisten eine weit verbreitete Annahme, dass die offiziellen Zahlen allzu oft nicht die Realität widerspiegelten.

In der kleinen Gemeinschaft eines Lagers konnte man leicht erkennen, wenn von einem Tag auf den anderen einige Dutzend Asylbewerber verschwanden. Dies spiegelte sich jedoch nicht immer in den von der griechischen Armee veröffentlichten Wochenberichten wider, die die Bewohner dieser Lager anhand der verteilten Essensportionen zählt.

Obwohl man dieses Phänomen am ehesten auf Korruption zurückführen könnte, war es in vielen Fällen auf Angst zurückzuführen; die Beamten hatten Angst davor, von ihren Vorgesetzten getadelt zu werden. Gut informierte Quellen vor Ort führen die fabrizierten Zahlen auf den ägäischen Inseln auf einen ähnlichen Grund zurück.

“Es liegt auch im Interesse des griechischen Staates, die vorgelegten Zahlen hoch zu halten”, sagte ein Spitzenbeamter einer großen, ausländischen Organisation, die an mehreren Orten in Griechenland tätig ist, gegenüber Salomon. “Denn auf diese Weise wollen sie den EU-Ländern zeigen, dass sie die Aufgabe bewältigen, mit der sie beauftragt wurden und für die sie EU-Gelder erhalten: Die Menschen auf den Inseln halten”.

So erzeugt es einerseits den Anschein, dass sie diese Aufgabe erfolgreich erfüllen, und andererseits erlaubt ihnen die höhere Zahl der Asylsuchenden, ein Gefühl von Dringlichkeit aufrechtzuerhalten.

Dies könnte auch erklären, warum die griechische Regierung auch nach fünf Jahren sich nicht bemüht hat, die Bedingungen in den Lagern Nordgriechenlands zu verbessern. Sie teilen die Ansicht, dass, wenn die Bedingungen in diesen Lagern schlecht bleiben, Flüchtlinge und Migranten einen Grund mehr haben würden, Griechenland zu verlassen und in andere europäische Länder zu gehen.

Gleichzeitig lässt sich jedoch folgendes Paradoxon beobachten. Theoretisch dürfen Asylsuchende auf den ägäischen Inseln erst dann ausreisen, wenn sie eine endgültige Antwort auf ihren Asylantrag haben. Minister Notis Mitarakis führte das “Verschwinden” tausender Flüchtlinge aus Moria darauf zurück, dass sie “illegal die Kontrollpunkte passierten”. Die Zeugenaussagen, die wir für diesen Bericht zusammengetragen haben, deuten jedoch auf eine Nachlässigkeit der Behörden bei der Prüfung der Frage hin, ob die Menschen, die die Inseln verlassen wollten, tatsächlich das Recht dazu hatten.

Fahim sagte, dass etwa 80 Bewohner Morias, die eigentlich nicht reisen durften, die Insel am selben Tag mit der Fähre verließen, an dem er die Insel verließ. Und Islamuddin zeigte uns genau, wie man Dokumente leicht so ändern kann, dass sie die Kontrollpunkte passieren könnten.

Es sei im Lager allgemein bekannt, fügte er hinzu, dass es Leute gäbe, die man dafür bezahlen könne, dass sie dies für einen vorbereiten. Oder man könne einfach lernen, wie man es selbst macht, so wie er. Die Bewohner Morias wissen es, Humanisten vor Ort wissen es, sogar wir wissen es, wie ist es also möglich, dass die Regierung nicht wusste, dass dies geschieht?

“Vielleicht haben sie die Leute auch absichtlich gehen lassen”, sagen Islamuddin und Fahim. “Wenn es unter diesen Bedingungen weniger Menschen gibt, gibt es vielleicht auch weniger Kämpfe”.

Wie dies in Geld umgesetzt wird

Auch wenn Korruption nicht das Motiv ist, so hat die Inflation der Zahlen in offiziellen Berichten doch Konsequenzen, die sich auch in einem falschen Umgang mit Geldern niederschlagen können. Das prominenteste Beispiel sind die Catering-Verträge.

Die griechische Armee, die staatliche Behörde, die für die Versorgung der in Flüchtlingslagern lebenden Bewohner mit Nahrungsmitteln zuständig ist, vergibt Aufträge an Cateringfirmen für die Lieferung der täglichen Mahlzeiten. Auf den ägäischen Inseln beträgt der Preis der täglichen Mahlzeiten für jeden Bewohner 6,01 €.

Berücksichtigt man nur  Lesbos und Samos und rechnet man nur den August, den Monat vor dem Brand von Moria, so ergibt sich eine Zahl von mehr als 5.100 Personen, für die Nahrungsmittel bereitgestellt – oder zumindest bestellt – wurde.

Der August hat 31 Tage. Wenn man die Catering-Unternehmen dafür bezahlt, dass sie 31 Tage lang Nahrungsmittel für 5.100 Personen zu einem Tagessatz von 6,01 € pro Person bereitstellen, so belaufen sich die täglichen Zusatzkosten auf 30651 € und die Gesamtkosten am Ende des Monats auf 950181 €, also fast 1 Million €, nur für einen Monat!

Der griechischen Regierung wurden seit 2015 insgesamt 2,77 Milliarden Euro an EU-Mitteln als Finanzhilfe zur “besseren Steuerung von Migration und Grenzen” zugewiesen.

Ein Großteil davon steht im Zusammenhang mit der Aufnahme und Verwaltung der auf den ägäischen Inseln asylsuchenden Menschen – so wurden beispielsweise 2018 und 2017 dem Verteidigungsministerium 25,69 Millionen Euro bzw. 7 Millionen Euro für die Bereitstellung von “Unterkunft und Verpflegung, Verpflegung, Gesundheitsversorgung und Transport von den Inseln zum Festland” zur Verfügung gestellt.

Im Juli letzten Jahres erhielt das UNHCR 8,25 Millionen Euro für die Bereitstellung von COVID-19-Nothilfemaßnahmen für die griechischen Inseln. Wieviel der gesamten Mittel, die Griechenland für die Unterstützung der Situation auf den Inseln zur Verfügung gestellt wurden, basieren auf gefälschten Zahlen?

Nach Moria ein Schiffbruch…

Toryalai und Farzaad sind jetzt in Deutschland. Sie haben dort bereits ihr Asylgespräch geführt.
Alle Personen, mit denen ich für diesen Bericht gesprochen habe, kennen persönlich andere, die sich nach der Flucht aus Moria und Griechenland in anderen europäischen Ländern niedergelassen haben. Aber nicht jeder hat ein Recht auf eine Geschichte mit einem Happy End.

Reza, ein 27-jähriger Asylbewerber aus dem Iran, gelang es, Moria heimlich zu verlassen, nachdem er 13 Monate lang dort geblieben war und auf sein Asylgespräch gewartet hatte, das aber nie statt fand. Er sagt, dass er auch deshalb gehen musste, weil er um seine Sicherheit fürchtete; es gab einen Vorfall im Iran, bei dem iranische Streitkräfte Afghanistani erschossen, die versuchten, die Grenze zu überqueren, und eine berüchtigte Bande im Lager, die aus Afghanistani bestand, bedrohte daraufhin die iranischen Asylsuchenden, während die Polizei nichts für ihre Sicherheit tat. Solomon konnte unabhängig überprüfen, dass diese Ereignisse stattgefunden haben.

In den vergangenen Wochen hatte Reza zusammen mit anderen Migranten versucht, von Korfu aus nach Italien zu segeln. Aber ihr Boot ging kaputt, und als sie gerettet wurden, wurden sie, wie er sagt, mit Gewalt behandelt und drei Tage lang von den griechischen Behörden festgehalten.

Reza irrte auf dem griechischen Festland umher und fand schließlich in einem Flüchtlingslager Unterschlupf. Dort durfte er etwa zwei Wochen bleiben, aber kurz vor der Veröffentlichung dieses Artikels kontaktierte er mich und sagte, er sei nicht mehr im Lager, da der Leiter ihn aufgefordert hätte, das Lager zu verlassen.

Reza hat darüber nachgedacht, nach Lesbos zurückzukehren, sich bei “Moria 2.0” anzumelden und die Entscheidung in seinem Fall abzuwarten. Aber Freunde, die ebenfalls heimlich aus Lesbos geflohen und vor kurzem zurückgekehrt waren, sagten ihm, er solle seine Zeit nicht verschwenden, sie dürften das neue Lager nicht betreten.

Ihre Fälle sind nun abgeschlossen.

Titelfoto: Stavros Malichudis
Data analysis und Visualisierung: Corina Petrid
Übersetzung aus dem Englischen: Ines Lessing und Frank Hintsch
Originalartikel: https://wearesolomon.com/mag/on-the-move/morias-missing-migrants/