Immer noch Krieg, Vertreibung und Flucht – ein Fluchtpunkt-Projekt und seine Folgen

von Anke, Regine und Ulrike

Und wieder ein neuer Krieg und neue Flüchtlinge – diesmal aus der Ukraine. 2015 flohen die Menschen vor dem Krieg in Syrien, im Irak und anderswo und davor (und noch immer!) vor Krieg, Armut und Ausbeutung in Afrika.

Seit über acht Jahren beschäftigt sich die Initiative Fluchtpunkt Bergedorf mit dem Thema Flucht. Eine Gruppe von 20 jungen Männern aus Westafrika, die 2013 nach Bergedorf kamen, hat uns zusammengebracht und zu einem langjährigen Projekt geführt, das inzwischen weitgehend abgeschlossen ist, aber weiterwirkt und uns nachhaltig beeinflusst hat.

Wie die Geschichte begann

Den jungen Männern aus Westafrika hatten die deutschen Behörden Flüchtlingsunterkünfte in Sachsen-Anhalt zugewiesen, aber sie wollten einfach nicht in irgendwelchen Dörfern ohne Perspektive und in einem oft feindseligen Umfeld sitzen und warten. „Essen und Schlafen, das halte ich nicht aus“. So haben sie sich in die Bahn gesetzt in der Hoffnung, irgendwie in Hamburg Fuß zu fassen und landeten im Bergedorfer Jugendzentrum – erstmal inoffiziell, denn Wohnen ist im Flop nicht erlaubt.

Die Unterstützungsgruppe, die sich schnell zusammengefunden hatte und aus der sich dann die Fluchtpunkt-Initiative entwickelte, beschloss nach langen Diskussionen: Angriff ist die beste Verteidigung, Öffentlichkeit kann auch ein Schutz sein. Das Interesse an der daraus folgenden Veranstaltung im Kulturforum am Serrahn war groß, die Spenden- und die allgemeine Hilfsbereitschaft auch. So hatten wir die Möglichkeit – neben selbst organisiertem Deutschunterricht, Hilfe bei der Arbeitssuche und Arztterminen – anwaltliche Unterstützung zu finanzieren.

Für ein paar Wochen wurden die jungen Männer in verschiedenen Privatquartieren untergebracht und konnten dann noch für einige Monate im Flop bleiben. Dann geschah ein kleines Wunder: Kurz bevor die Gruppe endgültig dort ausziehen musste und als alle sozusagen schon auf gepackten Rucksäcken saßen mit der Perspektive, sich lieber obdachlos in Hamburg durchzuschlagen als nach Sachsen-Anhalt zurückzugehen, fand sich ein Haus! Dank einer unglaublich tatkräftigen, liebevollen und mutigen Pastorin und ihrem beherzten Gemeinderat, der das Projekt über die ganze Zeit mitgetragen hat, konnte die Gruppe in ein ehemaliges Küsterhaus in Reinbek umziehen! Es war fast zu schön, um wahr zu sein. Nun gab es eine längerfristige Perspektive, mehr Sicherheit und den Schutz der Kirchengemeinde.

In dieser Zeit hat sich Fluchtpunkt weiterentwickelt: Es gab die Gruppe, die direkt mit Rat und Tat die Männer im Reinbeker Haus unterstützte und den „politischen Flügel“, der zahlreiche Veranstaltungen, Aktionen, Konzerte und Demonstrationen organisierte und Öffentlichkeitsarbeit machte, natürlich mit vielen Überschneidungen.

Es folgten zwei unglaublich intensive Jahre in und um das Küsterhaus. Wir haben so viel gelernt, miteinander und übereinander. Wir haben zahlreiche Institutionen aufgesucht und kontaktiert, die tolle Arbeit machen, wir haben viel über die Asylgesetzgebung erfahren, über den Umgang mit deutschen Behörden und deren Unbeweglichkeit und sehr viel über Alltags-Rassismus.

Wir haben so ziemlich alle rechtlichen Möglichkeiten ausgelotet und ausgereizt, um den Aufenthaltsstatus der Männer zu verbessern und zu festigen und sind immer wieder frontal an Grenzen gestoßen: Die Festung Europa will keine Arbeitsmigration. Flucht vor Armut und zur Unterstützung der Familien in der Heimat ist nicht vorgesehen, obwohl doch bekannt ist, dass weit über die Hälfte aller Gelder, die in afrikanische Länder fließen, von Migranten dort hingeschickt werden und direkt bei den Hilfebedürftigen ankommen – im Gegensatz zur staatlichen „Entwicklungshilfe“, an der sich nur allzu oft korrupte Eliten bereichern.

Einer der Männer hat eine Partnerschaft mit der selbst organisierten Medizinstation in seinem Heimatdorf Djilékhar initiiert, wir konnten mithilfe zahlreicher Spenden dort einen Rettungswagen hinschicken und in der Folge noch mancherlei Ausrüstung und Hilfsgüter.

Wir haben Freundschaften geschlossen, Unternehmungen gemacht, Spaß gehabt zusammen und endlose Gespräche geführt. Es gab aber auch heftige Konflikte – unter uns, mit und auch unter den Bewohnern im Küsterhaus, und natürlich haben wir auch viele Fehler gemacht. Alles in allem aber war es eine Erfahrung, die wir nicht missen wollen.

Zwei Jahre nach dem Bezug des Hauses wurde die kostenfreie Nutzung unter Erstattung der Nebenkosten in ein Mietverhältnis umgewandelt. Nun wohnten nicht mehr so viele Menschen im Haus, die inzwischen alle werktätig waren und die wir weiter unterstützten, wo es nötig war.

Die ursprüngliche Bewohner-Gruppe hatte sich mit der Zeit reduziert, einige haben ihren Weg gefunden, andere sind desillusioniert ins europäische Ausland gewandert – Abschied auf Raten. Mit vielen halten wir den Kontakt, zu einigen ist er abgerissen.

Im vergangenen Sommer musste die Kirchengemeinde aus Finanznot das Projekt beenden, das Haus ist abgerissen und eine Wohnungsbaugenossenschaft baut dort nun ein Mietshaus.

Ein einmaliges Projekt ist sang- und klanglos zu Ende gegangen. Ein Abschiedsfest konnte es nicht geben, denn es war Corona-Lockdown. Aber es ist ja auch nicht wirklich zu Ende: Die Freundschaften bestehen weiter, die Unterstützung auch.

Was haben wir gelernt, welche Erfahrungen bleiben?

Das Küsterhaus in Reinbek ist abgerissen, die dort gemachten Erfahrungen als ehrenamtliche Unterstützer*innen wirken bis heute nach.

Wir haben Alltagsrassismus aus nächster Nähe erlebt, z.B. bei behördlichen Terminen, Arbeits- und Wohnungssuche. Das hat unsere Bereitschaft bestärkt, Ungerechtigkeiten aufzudecken.

Wir haben Schwellenängste abgebaut, und unser Interesse an Andersartigkeit und Fremdheit ist gewachsen.

Wir haben viele schöne Erfahrungen in unserer Unterstützungsgruppe gemacht: Der Austausch, der Zusammenhalt, Freundschaften, die andauern, die vielen Kontakte mit so vielen tollen Menschen, gemeinsame Erlebnisse. Nicht alleine dazustehen mit Problemen, Gedanken, Gefühlen, Rückendeckung durch die Gruppe der Unterstützer*innen zu erfahren – das ist so wichtig!

Wir haben uns ganz schön aufgerieben, haben auch hoffnungslose Momente erlebt, aber wir machen weiter in diesem Bereich, in den Bergedorfer und Vierländer Unterkünften, in den privaten Beziehungen, die sich aufgebaut haben.

Ehrenamt hat für uns viel mit Geben und Nehmen zu tun, nicht mit Aufopfern oder „Gutmensch sein“. Symmetrisch ist die Beziehung zwischen uns und den Geflüchteten natürlich nie, aber so weit wie möglich partnerschaftlich, solidarisch und einfühlsam.

Im politischen Bereich hat Fluchtpunkt diverse öffentliche Veranstaltungen durchgeführt, u.a. zu Themen wie Fluchtgründe oder Vertreibung. Es gab zudem Solidaritätsveranstaltungen, die eine breitere Öffentlichkeit einbezogen und bei denen wir Missstände und Ungerechtigkeiten aufzeigen konnten. Die politische Diskussion und die Auseinandersetzung mit den politischen Ereignissen war und ist für uns immer eine wichtige Ergänzung zur praktischen Unterstützung.

Und heute? Wir sehen, dass unter den Geflüchteten eine Hierarchie besteht. Wer bekommt welche Papiere? Wer darf wie lange bleiben? Wieso nehmen jetzt Staaten Ukrainer*innen auf, die gegenüber anderen Nationalitäten die Grenzen fest verschlossen hielten? Auch da gibt es rassistische Tendenzen in der Betrachtung in Not geratener Menschen.

Alle Menschen sind gleich????

Postskriptum:

Was wir auch gelernt haben:

Wie wichtig es ist, sich rechtzeitig abzugrenzen und die eigenen Kapazitäten realistisch einzuschätzen. Manchmal ist die Situation so, dass Unterstützer*innen sich angesichts der Not total auspowern und irgendwann zusammenklappen und ganz aussteigen. Oft ist es aber wertvoller, z.B. zu sagen: „Ich kann zwei Stunden die Woche helfen“ – das dann aber zuverlässig über einen langen Zeitraum hinweg durchzuhalten.

Ein Wunschgedanke:

Jede/r Geflüchtete (oder jede Familie) sollte eine Patin oder einen Paten haben: Eine Person, die unter die Arme greift, hilft, Dinge zu regeln und die freundschaftlich verbunden ist. Dann wäre die Kraft schön verteilt und niemand müsste sich allein durchschlagen.

Anke, Regine, Ulrike