Festung Europa

Es gibt einen Krieg gegen Migranten. Auf dem Papier tritt Europa für Asyl, Genfer Konvention, Menschenrechte, Seenotrettung usw. ein. In der Praxis sieht es aber ganz anders aus. In der Praxis wird Europa zu einer Festung ausgebaut.  Migranten werden an den Außengrenzen der EU in sogenannten Hotspots interniert, sie werden zurückgetrieben mit Waffengewalt, sie werden verletzt, gekidnapped, sogar getötet und Seenotrettung wird zur kriminellen Handlung umgedeutet. Die EU missbraucht ihre Macht gegenüber den Habenichtsen in Afrika, um dort ein Grenzregime zu ihrem Vorteil einzurichten nach dem Motto „Schengen für uns, Zäune für Afrika“.

Ich selbst kann reisen, wohin ich will, ich verlasse mich auf meine Grund- und Menschenrechte, ich halte es für selbstverständlich, zu kommen, zu bleiben und zu gehen, wie es mir beliebt. Ich als deutscher EU-Bürger genieße diese elementaren Rechte und ich träume davon, dass diese Rechte jedem Menschen zustehen, dass nicht der Paß, nicht die Hautfarbe oder Religion entscheidend sind.

Wie aber sieht es aktuell für einen Flüchtling aus? Um einen Asylantrag in Europa zu stellen, müssen Flüchtlinge laut EU-Aufnahmerichtlinie zunächst nach Europa einreisen. Um das auf legalem Weg zu tun, brauchen sie ein Visum. Doch Menschen in Krisengebieten haben meist keine Chance auf ein Visum. Das hat mehrere Gründe: Zum einen werden die diplomatischen Vertretungen in Kriegsregionen häufig geschlossen. Zum anderen ist die Vergabe eines Visums nach EU-Visakodex an strenge Bedingungen geknüpft, wie etwa dem Nachweis von ausreichenden finanziellen Mitteln. Ohne ein Visum ist es nicht möglich, ein Flugzeug zu besteigen, um nach Europa zu gelangen. Denn nach einer EU-Richtlinie von 2001 gilt in dem Fall die Fluggesellschaft als “Beförderungsunternehmen”, das sich als solches strafbar macht und eine entsprechende Geldstrafe zahlen muss.

Die Agentur der Europäischen Union für Menschenrechte (FRA) hat die Zahl der Schengen-Visa verglichen, die in Syrien vor und nach Beginn des Bürgerkriegs ausgestellten wurden: Während 2010 in Syrien noch rund 35.000 Schengen-Visa ausgestellt wurden, lag die Zahl 2013 fast bei Null.

Darum können Flüchtlinge und Migranten nur “illegal” zu uns kommen.

Hotspots


2015 hat die Europäische Union sogenannte Hotspots an den südlichen Außengrenzen der EU eingerichtet. Es gibt fünf Hotspots auf den griechischen Inseln (Chios, Lesbos (Moria), Samos, Leros, Kos) und fünf in Italien (Lampedusa, Pozzallo, Taranto, Trapani, Augusta). Dort werden alle ankommenden Asylsuchenden registriert. Dafür sind sowohl Vertreter der nationalen Grenzbehörden als auch Mitarbeiter der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) und des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) zuständig.

In Griechenland müssen Geflüchtete, die in den Hotspots registriert wurden, zunächst auf den Inseln bleiben. Sie haben hier zwei Optionen:

  1. Sie werden im Rahmen des sogenannten EU-Türkei-Deals zurück in die Türkei überstellt, wo sie einen Asylantrag stellen können.
  2. Sie stellen einen Asylantrag in Griechenland. In diesem Fall dürfen sie die Insel nicht verlassen, bis der Antrag bearbeitet wurde.

In Italien werden Geflüchtete nach der Registrierung in zwei Gruppen aufgeteilt: Asylsuchende und vermeintliche “Wirtschaftsflüchtlinge”.
Erstere werden in einem Aufnahmezentrum (CARA) oder in einer Notunterkunft (CAS) untergebracht und können einen Asylantrag stellen. Letztere werden in einem “Ausreisezentrum” (CIE) festgehalten und daraufhin abgeschoben.

Vor allem die griechischen Hotspots zeichnen sich durch eine katastrophale Infrastruktur aus:

  • hoffnungslos überbelegt
  • Desaströse Hygiene, nur ein Wasserhahn für 1300 Personen. Seife zum Waschen der Hände können sich viele Bewohner nicht leisten.
  • Keine Gesundheitsversorgung, 3 Ärzte für 15000 Migranten
  • Keine funktionierende Müllentsorgung
  • Keine Möglichkeit für Rechtsberatung
  • Stundenlanges Anstehen für Kleidung, für Nahrung, für Waschraum

Seit Covid-19 zusätzliche Belastungen:

  • Es wurden zeitweise keine Asylanträge mehr entgegengenommen
  • Anstehen für Geldautomaten, für Ausgangserlaubnis
  • Die allgemeine Quarantäne wurde zwar für die Griechen beendet, nicht aber für die Migranten in den Hotspots! Dies soll für die gesamte Touristen-Saison fort gelten.

Keines der Camps ist zu Fuß leicht zu erreichen, daher besteht keine reelle Möglichkeit, dass Menschen die öffentliche Infrastruktur nutzen können.

Die lokal und international organisierte Neo-Faschisten-Szene nutzt die Situation zu gewaltsamen Angriffen gegen Migranten, NGO-Mitarbeiter oder UNHCR-Einrichtungen.

Pushbacks

“Pushback” beschreibt die informelle Ausweisung einer Person oder Gruppe in ein anderes Land, also ohne ordnungsgemäßen Prozess. Dies steht im Gegensatz zu dem Begriff „Abschiebung“, der in einem rechtlichen Rahmen durchgeführt wird. Pushbacks sind ein wesentlicher Bestandteil des Grenzregimes, wie es sich 2016 nach der Sperrung der Balkanroute entlang der EU-Grenzen in Ungarn, Kroatien oder Griechenland entwickelt hat.

Beispiel Griechenland

Aus einem Report des griechischen Kollektivs „Stop War On Migrants“:

Pushbacks in Griechenland bedeutet Entführung von Migranten und illegale Abschiebung in die Türkei. Pushbacks finden auf den Inseln statt: Migranten, die an einem Strand gelandet waren, verschwinden plötzlich: Sie werden ohne formelles Verfahren in die Türkei zurückgebracht. Pushbacks durch den Fluss Evros sind seit vielen Jahren eine gängige Praxis und werden gerne extra demütigend durchgeführt: Grenzschutzbeamte ziehen den Migranten ihre Kleidung aus, schlagen sie mit Schlagstöcken und nehmen ihr Geld und ihre persönlichen Gegenstände mit.
Pushbacks finden auch nach Polizeirazzien in den Innenstädten und in den Lagern statt. Da legale Abschiebungen ein zeitaufwändiges Verfahren sind und kein Land die „unnötige“ Bevölkerung akzeptiert, scheint ein „sicheres Drittland“ die Lösung des Problems zu sein! Deshalb erfahren wir oft, dass Menschen, die in Haftanstalten untergebracht sind, stillschweigend verschwinden. Pushbacks können sowohl leise als auch tödlich sein …

Beispiel Kroatien

Aus einem Bericht der Initiative „Border Violence Monitoring Network“:

Seit Beginn der Pushbacks nach Bosnien Herzegowina hat die kroatische Polizei gezielt Gewalt eingesetzt, um den Migranten Angst einzujagen und Überfahrten zu verhindern. Goran Matijević, der Chef der berüchtigten Korenica-Polizeistation, prahlte 2019 damit, dass „die Migranten von selbst zurückkehren, wenn sie spüren, dass wir kommen“. Damit bestätigt er das, was Migranten an der kroatischen Grenze in einem wahren Spießrutenlauf an körperlichen Misshandlungen zu erwarten haben.
Üblicherweise setzt die kroatische Polizei Schlagstöcke, Stöcke, Fäuste oder die flache Hand gegen Migranten ein, um sie über die grüne Grenze zurück zu treiben.

Es geht aber auch brutaler:

Amnesty berichtet von einem Vorfall, bei dem die Polizei mit Gewehrkolben auf die Köpfe schlug, bis sie bluteten. Um sie weiter zu demütigen, rieben die Beamten Ketchup und Mayonnaise in die Wunden.

In einem anderen Fall wurde am 27. Mai eine Gruppe von 15 pakistanischen Männern im kroatischen Dorf Blata in einer alten Bahnstation von Beamten in schwarzen Uniformen und Masken angegriffen. Ein Migrant wurde brutal mit einem Messer traktiert, während fünf Beamte ihn am Boden festhielten:

„Er stach in den Zeigefinger meiner linken Hand. Blut sprudelte heraus. Dann lächelte er und schnitt in meinen Mittelfinger, dann mit einem tiefen Schnitt in meine Handfläche.“

Externalisierung

Die EU und einzelne europäische Staaten haben in der Vergangenheit mehrere umstrittene Abkommen mit afrikanischen Staaten geschlossen, um Migrationsbewegungen zu reduzieren. Spanien begann schon in den 1990er Jahren seine Migrationskontrolle nach Westafrika zu verschieben. 1998 legte die österreichische Präsidentschaft dem Europäischen Parlament ein “Strategiepapier zur EU-Migrations- und Asylpolitik” vor, in dem es unter anderem darum ging, Drittstaaten in das europäische Grenzsystem miteinzubeziehen.
Innerhalb von fast 20 Jahren gab es zahlreiche Gipfel und Prozesse, in denen – neben wirtschaftlicher Kooperation und Entwicklungshilfe – Migrationskontrolle eine zentrale Rolle spielte.

Im November 2017 alarmierte ein Beitrag des Nachrichtensenders CNN die Öffentlichkeit. Die Reporter berichteten über sklavenähnliche und zutiefst menschenunwürdige Verhältnisse in libyschen Internierungslagern. Europäische und afrikanische Regierungen, die zur gleichen Zeit ihr Gipfeltreffen in Abidjan abhielten, sahen sich daraufhin gezwungen, geeignete Schritte zum Schutz und zur Rettung der internierten Migranten und Flüchtlinge zu präsentieren.

Doch statt eine Evakuierung der Menschen in sichere europäische Länder zu organisieren oder in Erwägung zu ziehen, die Unterstützung der für Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen libyschen Küstenwache zu beenden, wurde die Rückführung von Flüchtlingen und Migranten aus Libyen in ihre Herkunftsländer beschlossen. Eine gemeinsame Taskforce aus Europäischer Union, Afrikanischer Union und Vereinten Nationen beauftragte die Internationale Organisation für Migration (IOM) damit, ein humanitäres Rückkehrprogramm aus Libyen durchzuführen.

Berichte von Betroffenen legen nahe, dass die Beteiligung an den Rückkehrprogrammen keineswegs immer freiwillig erfolgt, wie von der IOM behauptet, sondern teils erheblicher psychischer und in Einzelfällen auch physischer Druck auf die Migrantinnen und Migranten ausgeübt wird, damit sie ihrer eigenen Rückführung zustimmen. Vielfach erscheint ihnen eine Rückkehr in ihr Herkunftsland angesichts in Libyen drohender Folter und Gewalt als das kleinere Übel, nicht jedoch als eine geeignete Maßnahme, um tatsächlich in Sicherheit zu leben.

Interviewte Migrantinnen und Migranten berichten von schweren Menschenrechtsverletzungen und lebensbedrohlichen Abschiebungen in die Wüste.

Die Organisation „Alarm Phone Sahara“ startete jüngst einen dringenden Appell:

Alarm Phone Sahara ruft die Zivilgesellschaften in Niger und auf internationaler Ebene auf, sich mit den in Niger gestrandeten Asylbewerbern solidarisch zu zeigen. Wir müssen gemeinsam gegen die engherzige Migrationspolitik der europäischen Staaten vorgehen, die die Grenzen zwischen Afrika und Europa schließt und gleichzeitig verhindert, dass Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Elend auf afrikanischem Boden fliehen, dorthin gelangen, wo sie hoffen können, in Sicherheit zu leben.

In der letzten Mai-Woche starben in der nigerianischen Ténéré-Wüste mehr als 20 Menschen, alle aus Libyen kommende Niger.

Sie starben an Durst aufgrund von Fahrzeugpannen mitten in der nigerischen Ténéré-Wüste.

Solche mörderischen Tragödien sind eine direkte Folge der von den europäischen Mächten auferlegten Politik der Grenzschließung, die verhindert, dass Menschen auf Migrationsrouten unter sicheren Bedingungen reisen. Diese Situation droht derzeit mit der Covid-19-Krise noch schlimmer zu werden.

Quellen

  1. Transborder Network: https://trans-border.net
  2. AlarmPhone, hotline for boat people: https://alarmphone.org
  3. Alarm Phone Sahara: https://alarmephonesahara.info
  4. Migration Control: https://migration-control.info
  5. Migrationskontrolle – ein Projekt der TAZ: https://migration-control.taz.de
  6. Bordermonitoring EU: https://bordermonitoring.eu
  7. Forensic Architecture: https://forensic-architecture.org
  8. Stop War on Migrants: https://athens.indymedia.org/media/upload/2020/06/23/StopWarOnMigrants_pamphlet_web.pdf
  9. Border Violence Monitoring Network: https://www.borderviolence.eu/wp-content/uploads/JUNE-REPORT.pdf
  10. Linea d’ombra https://www.lineadombra.org/bosnia-to-italy-border-guide/
  11. The dark sides of Europeanisation: https://www.rosalux.rs/sites/default/files/publications/MITROVIC_Dark_Sides_of_EU_.pdf
  12. Mediendienst Integration: https://mediendienst-integration.de
  13. Pro Asyl: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2018/06/PRO_ASYL_Faltblatt_GEAS_web_jun18.pdf
  14. Das Vorgehen Griechenlands und der EU an der türkisch-griechischen Grenze https://www.frsh.de/fileadmin/schlepper/schl_97/s97_42-43.pdf
  15. Der tägliche Blick ins Camp Moria https://moria.sea-watch.org