Interview 1 – Bergedorfer Engel

U: Magst du dich kurz vorstellen ?

S: Ich bin Susanne Diem, in Bergedorf aufgewachsen und erzähle über den Verein Bergedorfer Engel e.V., der sich um Obdachlose auf Hamburgs Straßen kümmert.

U: Was machst du da selber?  Also was ist da dein Job?

S: Ich bin stellvertretende Vorsitzende. Wir haben in Hamburg 6 mal im Monat feste Ausgaben, alle 2 Wochen sonntags auf der Reeperbahn und jeden Donnerstag am Bahnhof Sternschanze. Auf der Reeperbahn versorgen wir ungefähr 250 Menschen mit Essen, Getränken, Sandwichs, Kuchen und Sachspenden und dort koche ich jeden zweiten Sonntag für ungefähr 40, 50 Leute Essen. Ansonsten drehen wir sporadisch in Hamburg und hier in Bergedorf unsere Runden, suchen Obdachlose auf und geben Schlafsäcke, Zelte, Isomatten, warme Kleidung, Socken, Unterwäsche und Lebensmittel u.v.m. aus. In Bergedorf versuche ich immer, den Kontakt zur sozialen Beratungsstelle herzustellen, was auch eigentlich relativ oft erfolgreich ist. Meistens ist das Problem, dass obdachlose Menschen keine Papiere mehr haben, keine Krankenversicherung usw. Das leitet dann die Soziale Beratungsstelle in die Wege.

Auf diese Art und Weise können wir einige Leute wieder ins System zurück und in eine Unterkunft bringen. Außerdem bringen wir als Verein in Bergedorf den dritten Winter in Folge obdachlose Menschen spendenfinanziert im Hotel unter. Hier kümmere ich mich um das Fundraisung und um den Kontakt zu den Sozialarbeitern der Sozialen Beratungsstelle, der Diakonie und der Caritas. Die unterstützen die Gäste professionell bei der Regelung ihrer Behördenangelegenheiten, wir kümmern uns um die Unterbringung und auch um die Versorgung mit Sachspenden. Es ist für Obdachlose sehr schwer, Behördengänge anzugehen, weil sie sich ihrer eigenen Verwahrlosung schämen oder halt ihren Hausstand mitschleppen müssen, wenn sie z.B. einen Termin für neuen Personalausweis haben. Mit einem Dach über dem Kopf geht vieles einfacher.

 U: Wie viel Zeit wendest du dafür auf?  

S: Zuviel (lacht),  wobei tatsächlich das meiste administrativer Kram ist.  Das ist manchmal ein bisschen anstrengend, wenn wir sehr viele gut gemeinte Anfragen oder Mails von Leuten bekommen, mit deren Angeboten wir aber nichts anfangen können, z.B. in Ratzeburg abzuholende Marmor-Couchtische.
Ich würde mal sagen, so 2 Tage die Woche gehen da schon irgendwie drauf.

S: Bei den Bergedorfer Engeln bin ich jetzt seit 6 Jahren. 

U: Was ist deine Motivation?

S: Ich kann das, ich komm gut mit den Leuten klar, und ich habe da keine Hemmschwelle. Zu den BEs bin ich über die Tafel Bergedorf gekommen, wo ich seit ungefähr 18 Jahren arbeite. Wir hatten da immer mal Lebensmittel über und ich hatte erfahren, dass bei der Sonntagsausgabe für Obdachlose das Essen manchmal knapp war. Durch die Tafel hatte ich auch schon vorher Kontakt mit Leuten in irgendwelchen Problemsituationen.  

U: Nach dem, was du vorhin geschildert hast, gibt es eine Schnittstelle zwischen eurer Organisation und behördlichen Stellen. Und das scheint  ganz gut zu funktionieren. Füllt ihr mittels Zuarbeit eine Lücke für staatliche Stellen aus, die die selber nicht leisten oder nicht leisten können?  

S:  Ja, auf alle Fälle. im Prinzip machen wir ein bisschen Straßensozialarbeit, da einfach zu wenig Straßensozialarbeiter auf Hamburgs Straßen unterwegs sind, außerdem meistens eher tagsüber. Da ist es schwierig, Kontakt aufzubauen und kontinuierlich zu halten. Obdachlose haben nur selten ein Handy, sind viel unterwegs um Leergut zu sammeln, wechseln ihre Schlafplätze oder müssen ihre Platte räumen. Zum Beispiel gibt es eine Frau, die seit längerer Zeit im Bahnhof schläft. Sie ist erst abends um 8 da und morgens um 7 ist wieder weg. Das ist natürlich außerhalb der Arbeitszeiten. Wie in vielen anderen Bereichen kümmern sich Ehrenamtliche um Dinge, die eigentlich Aufgabe des Sozialstaats wären.

U.: Dann kennst du viele persönlich von den Obdachlosen?

S: Ja, eigentlich schon, wobei hier in Bergedorf immer mal wieder neue auftauchen.

Viele wissen oftmals gar nicht, dass es hier die Soziale Beratungsstelle gibt. Letzten Herbst tauchte ein Mitte 70-Jähriger auf einer Parkbank in Bergedorf auf. Der hatte so gut wie gar nichts mehr, und wir haben ihn erfolgreich dorthin verwiesen. Nun ist er spendenfinanziert von uns im Hotel untergebracht, hat einen sehr guten Kontakt zu seiner Sozialarbeiterin und sagt, er hat das erste Mal seit Jahren mal wieder so etwas wie Hoffnung. Im März zieht er in eine Senioren- Wohnung. 

Viele obdachlose Menschen kämpfen Jahre ums Überleben, sind im Winter vielleicht in der Unterkunft des Winternotprogramms und machen mal hier und mal da Platte, sind aber irgendwie unsichtbar. Zum Beispiel T. hat 15 Jahre im Wald gelebt. Dem hab ich gesagt „Ruf doch mal in der Sozialen Beratungsstelle an“
.  Es hat eine Weile gedauert, aber schlussendlich hat er mit deren Hilfe seine ganzen Papiere zusammen bekommen und wohnt jetzt in einer eigenen Wohnung in der Stiftung Joachimstal.

Ein bis 2 Leute im Jahr kriegen wir mit vereinten Kräften in eine Wohnung. 

Ein weiteres Beispiel ist ein 76-Jähriger, unter Altersarmut leidender Mann, schwer herzkrank, der 3 Jahre am Hauptbahnhof an einer Bushaltestelle geschlafen hat. Wir haben ihn erst im Hotel einquartiert und ihn dann in Zusammenarbeit mit dem Bergedorfer Verein für Völkerverständigung, der Sozialen Beratungsstelle sowie der Saga in einer kleinen Seniorenwohnung in Lohbrügge untergebracht.



U: Gibt es Fälle, die nicht zu einem Erfolg führen?

S: Z.B. die Frau, die am Bahnhof schläft, aber keine Beratung möchte. Ich weiß nicht, wo sie sich tagsüber aufhält. Wenn es sehr kalt wird nachts, macht mir das schon ein bisschen Sorgen. Aber wenn die Menschen, wie in ihrem Fall, es nicht wollen, wird es schwierig. Wie z.B bei einem obdachlosen Mann in Bergedorf, der dünn bekleidet ist und jede Hilfe ablehnt. Wenn ihm das 1000. Paar Schuhe angeboten wird, macht ihn das echt ärgerlich. Er ist der Meinung ist, dass er nichts braucht und findet Hilfsangebote übergriffig und respektlos. Das muss man auch akzeptieren.



U: Aber es gibt ja auch die Fälle, wo du dann sagen kannst, das ist dann irgendwie auch so ein Erfolgserlebnis.

S: Ja, wie bei F., der 3 Jahre in Bergedorf Platte gemacht hat und immer alle Vorschläge bezüglich einer Unterbringung abgelehnt hat, mit den Worten: „Das hat doch alles keinen Zweck mehr“ – Irgendwann hat er dann plötzlich gesagt: „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr auf der Straße leben“. 

U: Steter Tropfen höhlt den Stein …

S: Ich kam mir schon manchmal vor wie so eine Mama mit meinen Überzeugungsversuchen. Aber irgendwann mal hat es dann Klick gemacht in seinem Kopf.

U: Jetzt hat er eine eigene Wohnung, oder?

S: … ein Zimmer. Das ist nett da, geführt von der Heilsarmee, es gibt soziale Betreuung, Verpflegung und Freizeitangebote. Die machen gute Arbeit.

U:  Du nanntest vorhin Beispiele, in denen ihr Wohnungslose in Hotels untergebracht habt. Das könnte doch das Projekt Hamburg Housing First machen?

S: Eigentlich schon. Aber irgendwie kommen sie nicht aus dem Quark. Soweit ich weiß, ist es seit 2 Jahren in der Mache und es sind nur 30 Plätze angedacht. Und nun sind natürlich auch die ukrainischen Flüchtlinge dazu gekommen.

U: Ihr finanziert euch über Spenden. Bekommt ihr auch öffentliche Gelder oder versucht ihr das gar nicht?

S: Tatsächlich haben wir das noch nicht versucht, könnten wir aber mal machen.

U: Sucht ihr noch weitere Mitarbeiter*innen oder Helfer*innen?

S: Nicht wirklich, weil eigentlich alle Positionen bei uns ganz gut besetzt sind. Wir sind gut aufgestellt und das klappt alles ganz zuverlässig.

U: Ja, aber toll, dass ihr die Arbeit macht. Gibt es dennoch etwas, was durch gesellschaftliche Veränderungen eure Arbeit überflüssig machen könnte? Oder ist das ein Phänomen, was unsere Gesellschaft einfach mit sich trägt?

S: Ja, ich glaube das ist ein Phänomen dieser Wirtschaft. Dass Leute einfach aufgrund von psychischen Erkrankungen oder so was nicht mehr mithalten können, arbeitslos werden, oder dass sie vielleicht aufgrund zu hoher Mieten ihre Wohnung verlieren. Es sind ja immer die gleichen Gründe, die zur Obdachlosigkeit führen. Ich glaube, die Gesellschaft müsste sich schon grundlegend ändern, dass unsere Arbeit überflüssig wäre, dass überhaupt ehrenamtliche Arbeit überflüssig wird.

U: Wenn du dir irgendwas wünschen könntest, vom Staat oder der Gesellschaft, eine Veränderung, die deine Arbeit erleichtert oder die Bedingungen verbessert, was würdest du dir vorstellen können?

S: Na ja, die Bedingungen schaffen wir ja selber, (überlegt) hm, schwer zu sagen. Also das wäre schon wirklich eine Idealgesellschaft, die ich mir irgendwie wünschen würde. Also, es gibt schon runde Tische oder Zoom-Konferenzen mit Behörden, aber Ich würde mir wünschen, dass so etwas effektiver vonstatten geht und eine konkretere Hilfe wünschen.

U: Ja, das sind diese konkreten Dinge, die die Bedingungen für die Menschen, die Platte machen, erleichtern würden in Bergedorf, zum Beispiel eine Tagesaufenthaltsstelle, die wir aber einfach nicht durch kriegen, weil angeblich das Geld nicht da.

S: Ja, das stimmt. Wobei wir beim runden Tisch Obdachlosigkeit Bergedorf zu dem Schluss gekommen sind, dass Übernachtungsmöglichkeiten wichtiger wären.

U:  Aber ich hab mich auch zum Beispiel gefragt, warum das Winternotprogramm die Unterkunft nur nachts zur Verfügung stellt.

S: Na ja, bei extremen Wetterlagen wie Sturm oder Kälte machen sie schon tagsüber auf oder über Weihnachten/Silvester.  Die Argumentation ist immer, dass zwischendurch sauber gemacht werden muss.

U: Aber trotzdem hast du Recht, es sind ja in der Regel keine Einzelzimmer, sondern Mehrbett-Massenunterkünfte, womit viele ein Probleme haben. Ist das wirklich menschenwürdig?

S: Es hieß mal, dass dort nicht ausreichend Duschen vorhanden sind. Wenn die Leute nicht gewaschen sind, kriegen sie keine frischen Klamotten. Aber die Leute, die da übernachten, sind schon teilweise wirklich Hardcore. Sowohl die Security als auch die Sozialarbeiter:innen machen einen guten Job. Und da für Sauberkeit und für Ordnung und für Menschenwürde zu sorgen, ist schwer. Aber es ist eben auch größtenteils deswegen menschenunwürdig, weil viele der Leute, die da in Mehrbettzimmern übernachten, ganz schlimm dran sind, also sowohl suchtmäßig als auch psychisch.

U:  Ich denke mal, das ist eine gesellschaftliche und staatliche Aufgabe. Würde man mit Housing First  nicht irgendwie viele da rausbekommen? Und außerdem: Housing First heißt eben meistens eine Unterbringung, tatsächlich in eine Wohnung. Wenn wir hier nach Hamburg gucken, wären damit Verbesserungen in erheblichem Umfang möglich. Man muss Geld in die Hand nehmen.

S:  Ja, auf alle Fälle! Und das Winternotprogramm ist richtig teuer… das Geld wäre bei Housing First nachhaltiger investiert.

U: Oftmals fängt das Problem wegen geringem Verdienstes an. Wenn also die Miete oder die Nebenkosten irgendwie nicht bezahlt werden können, und dann fliegen die Leute raus.

S: Ja, und viele sind nicht in der Lage sich Unterstützung zu holen, stecken den Kopf in den Sand, machen die Post gar nicht mehr auf.

U: Muss man manche ein bisschen konsequenter an die Hand nehmen?

S: Nee, nee. Es fällt immer schwer, das nicht zu tun. Aber es ist eigentlich nicht gut.

U: Ein Stück professioneller Distanz musst du auch als Ehrenamtlicher wahren, um nicht  selber kaputt zu gehen.

S: Genau, weil du diese Menschen schlussendlich ganz sicher nicht ein Leben lang an die Hand nehmen kannst. Man kann wirklich nur Impulse geben oder ´nen Tritt in Hintern oder mit Adressen versorgen, oder so.

U: Wie hältst du aus, oder habt ihr Supervision?

S: Nee, haben wir nicht. Ich hab` das Gefühl, dass ich mich da schon abgrenzen kann.  Aber man wird auch ein bisschen abgeklärter im Laufe der Jahre, trotzdem geht einem manches nahe.
Die Frau, die am Bahnhof schläft, ist so ein Fall, weil sie sich nur sehr begrenzt helfen lassen will. Dass jemand sich da so elendig abends so eine Ecke zum Schlafen sucht, das macht mich schon nochmal traurig.  Aber ich kann trotzdem nachts schlafen.

Vielen Dank für das Gespräch

Klaus und Helmuth                                 

Klaus    
Helmuth