Extinction Rebellion – Folge 8: Klimabündnis blockiert Hamburger Hafen

Samstag 13.08.22, 10.00 Uhr Frascatiplatz Bergedorf – es wird wieder ein heißer Tag, ca. 30 Rebell*innen suchen den Schatten am Rande des Platzes. Viele aus Bergedorf, aber auch aus Harburg, Eimsbüttel, Bad Segeberg, Stuttgart, Bonn und Österreich, auch AR (Animal Rebellion) und der „Aufstand der letzten Generation“ sind vertreten. Und mehrere Journalisten (freie, DPA, NDR) sind eingetroffen. Sie werden sich uns anschließen und unsere Aktion von innen begleiten und dokumentieren. Zwei Vans und zwei Transporter (Kastenwagen) stehen mehr oder weniger unauffällig zwischen anderen geparkten Autos. Es ist noch Zeit, miteinander vertraut zu werden und letzte Absprachen zu treffen.

Klimapolitisch leben wir in einer Zeit des Rollbacks: Statt konsequent auf klima-neutrales und gerechtes Wirtschaften umzustellen, verfeuern wir weiterhin Kohle (z.B. aus Kolumbien), reden über Laufzeitverlängerungen von Atomkraft-werken, verhandeln neue Abkommen über Gasimporte (Katar, Senegal etc.), planen im Rekordtempo LNG-Terminals für überwiegend Fracking-Gas, nehmen verheerende Auswirkungen in Kauf – steigende Methan-Emissionen sowie Umweltzerstörung und Ausbeutung in Herkunftsländern -, beschließen ein 100-Milliarden-„Sondervermögen“ für Aufrüstung, laufen in eine zunehmende soziale Spaltung und befördern die Profite internationaler Öl-, Gas- und Kohlekonzerne… Währenddessen beschleunigt sich die Klimakatastrophe auf eine Weise, die selbst von Wissenschaftler*innen in diesem Tempo nicht prognostiziert worden ist. All dies tun wir in Deutschland unter maßgeblicher Beteiligung sogenannter GRÜNER Minister*innen. 

Vor diesem Hintergrund wuselt die Aktionsgruppe auf dem Frascatiplatz. Gefühle wie Wut, Ohnmacht, Verzweiflung, Mitgefühl, Zuversicht und Liebe zum Leben bilden hier den Hintergrund für höchst pragmatische Geschäftigkeit: Vertrautmachen mit dem Equipment – 2 mit Zement gefüllte Badewannen mit Durchlässen zum „Anlocken“,  diverse Stahlrohrstücke, ebenfalls geeignet, sich jeweils zu zweit festzuketten, Überprüfung von Karabinern, letztes Checken der Rollen (Fahrer*innen, „Lockies“ und Supportgruppen (Wasser, Lebensmittel, Sonnenschutz, Beistand aller Art), Telefonnummern von Backoffice und EA (Ermittlungsausschuss) auf`s Bein schreiben, letzte Kontakte mit den „Scouts“ vor Ort (die für uns die aktuelle Polizeipräsenz am Aktionsort checken) sowie zeitliche Koordination mit der Aktionsplanung des gesamten Bündnisses, ein vorerst letztes Mal „Pipi“ …

Die von XR für heute geplante Aktion ist Teil einer Gesamtstrategie, ausgehend vom „System Change Camp“ am Altonaer Volkspark (09. – 15.08.).: „Kohle stoppen. Gegen den fossilen Rollback. Gegen den Ausbau fossiler Gasinfrastruktur. Kapitalismus abschaffen.“ Mehrere Tausend Klimaaktivist*innen eines breiten Bündnisses leben und lernen eine Woche zusammen, planen Aktionen und führen sie durch. Neu und ermutigend: eher aktionsorientierte Gruppen, wie Ende Gelände und Extinction Rebellion, sind ebenso Teil dieses Bündnisses wie Fridays for Future, die Grüne Jugend, aber auch antifaschistische und internationale Organisationen sowie Gäste aus den vom europäischen Energiehunger betroffenen fossilen Brennpunkten der Welt.

Gegen Mittag in einer abgelegenen Ecke Wilhelmsburgs: die vier Kleinteams in den Vans und Kastenwagen treffen sich ein letztes Mal vor Aktionsbeginn. Der Adrenalinpegel steigt. Die Rebell*innen und Journalisten in den geschlossenen Transportern schöpfen noch mal frische Luft. Ein Fahrer wirft sich eine DHL-Weste über, ein Van sieht auf den ersten Blick aus wie auf der Fahrt zu einem sommerlichen Picknick … Von hier aus werden die vier Teams autonom agieren. Ziel: Erreichen und vollständige Blockade der Köhlbrandbrücke. Die jedoch weist wie auch andere sensible Bereiche des Hafens in diesen Tagen eine erhöhte Polizeipräsenz auf. Es geht also um Unauffälligkeit, Koordination und Tempo …

Für den Vormittag sind 5 Demonstrationen in Hamburger Stadtteilen angemeldet. Etwa 2000 Aktivist*innen sind im Klimacamp gestartet. Optisch dominieren die für Ende Gelände typischen weißen Maleranzüge. Plötzlich werden geplante Abschlusskundgebungen kurzfristig gecancelt, und hunderte von Aktivist*innen strömen unvermittelt in den ÖPNV. Sie bilden drei „Finger“ (Gold, Pink, Lila). Ihre Ziele: Blockade von Gleisanlagen im Hafen sowie des Kohlekraftwerks Moorburg und der Kattwykbrücke …

Gegen 12.30: Zeitlich koordiniert mit den Aktionen des Bündnisses um Ende Gelände starten die 4 Kleinteams auf unterschiedlichen Routen. Sie kommen unerkannt an den Polizeikräften vorbei auf die Brücke. Nun geht es ganz schnell: Auf der jeweils linken Spur Tempo rausnehmen, Warnblinker setzen, anhalten, aussteigen, Verkehr beruhigen, Warndreieck platzieren, Equipment ausladen, …, nach weniger als 60 Sekunden stehen 3 Blockaden. Die Rebell*innen sind an Leitplanke/Laternenmast „gelockt“ bzw. mit den beiden mit Zement gefüllten Badewannen verbunden. Banner und Pappschilder sind platziert: Z.B. „Hamburger Hafen = Moderner Kolonialismus“ oder „Stoppt die Ausbeutung des Globalen Südens!“, „Stop fossil colonialism!“ Die Transporter verlassen die Brücke sofort wieder unerkannt. Es wird gefilmt, fotografiert und interviewt. Die Polizei erscheint erst, als die mehrere Hundert Meter voneinander entfernten Blockaden stehen. Die Brücke ist zu. Leider hat sich eins der 4 Teams etwas verspätet und erreicht die Brücke erst genau in dem Moment, als die Polizei die Auffahrt sperrt. Unerkannt biegt das Team ab.

 Groß ist die Freude unter allen Aktivist*innen, als bekannt wird, dass alle Aktionen gemeinsam und nahezu gleichzeitig die Infrastruktur des Hamburger Hafens für einen Samstag Nachmittag empfindlich getroffen und Waren- und Verkehrswege blockiert haben. Später freuen wir uns über ein breites bundesweites Echo in Radio, Fernsehen und Presse – bis hin zur daily mail in GB. Und die Berichte sind überwiegend sachlich, neutral bis positiv-sympathisierend. So hoffen wir auf den gesellschaftlichen „Kipp-Punkt“, die „kritische Masse“ – oder ganz einfach: Immer mehr Menschen distanzieren sich von einem auf Zerstörung angelegten System und machen sich gemeinsam auf den Weg zum „System Change“.          

 Am Nachmittag: Die Polizeikräfte haben die Brücke beidseitig gesperrt und gesichert. Die 3 Blockaden stehen. Zum Glück sind Wolken aufgezogen, so dass die Hitze auf der schattenlosen Brücke erträglich bleibt. Die Stimmung hat sich beruhigt. Die Atmosphäre zwischen Polizei und Blockierer*innen ist freundlich-respektvoll. Später macht sich die technische Abteilung der Polizei an ihr anspruchsvolles Werk: Blockierer*innen erhalten Schutzbrillen und Ohrenschützer. Dann beginnt die vorsichtige Arbeit mit Schlagbohrern, Trennschleifern und anderem Gerät. Nach Stunden werden dann die Personalien aufgenommen, Bußgeldverfahren und Strafanzeigen in Aussicht gestellt und die Rebell*innen von der Brücke geleitet. In die Gesa (Gefangenensammelstelle) kommt dieses Mal niemand. Am späten Nachmittag sind alle Beteiligten auf dem Heimweg bzw. zurück ins Camp. Niemand ist zu Schaden gekommen, alles ist gewaltfrei verlaufen.

Inzwischen gibt es Nachbereitungen auf allen Ebenen: am gleichen Abend im Camp, in den Bezugsgruppen, auch bei der XR-Ortsgruppe Bergedorf. Es geht um die emotionale Verarbeitung, aber auch um Reflektion auf organisatorischer, strategischer Ebene sowie um die Frage der Wirkung in der Öffentlichkeit. Und nach dem Camp ist vor der „Wave“: Vom 17.-21.09. trifft sich Extinction Rebellion in Berlin … Der zivile Ungehorsam und der gewaltfreie Kampf für das Über-Leben gehen weiter: „What do you want?“ – „Climate justice!“ – „When do you want it?“ – „Now!“

Neben einigen Fotos der Aktionen verlinke ich den Artikel mit einem Film von Peet (XR-Bergedorf). Er dokumentiert unsere Brückenblockade aus der Innensicht eines der Blockadeteams. Ich lege ihn euch wärmstens ans Herz:

https://www.youtube.com/watch?v=WNTLceDC0YI

Zusätzlich hier ein link zu einer wunderbaren Fotostrecke von Stefan Müller:

https://www.flickr.com/photos/184802432@N05/albums/72177720301302559

Und schließlich: Wer bei uns mitmachen möchte, muss sich nicht gleich irgendwo festketten oder -kleben. Wir machen ja auch viele angemeldete, legale Aktionen, und es gibt viele wichtige kleine und große Jobs um unsere Aktivitäten herum.

Wir treffen uns jeden Dienstag um 19.00 Uhr in Bergedorf im Café Chrysander (Schlosspark). Du bist herzlich willkommen!